Lesereisen

Ich mag kleine Bühnen oder Nischen zwischen Bücherregalen, Ecken in Cafés oder Stufen im Altarraum. Ich mag es, wenn ich die Gäste sehen kann und sich meine Texte in ihren Gesichtern spiegeln. Reagieren sie so wie erwartet? Ein Schmunzeln, ein Lachen, ein Seufzen? Meistens. Mein Programm steht fest und trotzdem stelle ich mich ganz neu auf jede Veranstaltung ein.

Es ist ein Unterschied, ob ich in einem Café, Hospiz oder Buchladen bin. Jeder Raum hat ein Eigenleben und jeder Gast seine eigene Geschichte. Die Routine schenkt mir Freiheit, zu reagieren. Bei einer Veranstaltung in einem Hospiz blickten mich verweinte Gesichter an. Ich schluckte. Mir tropften selbst die Augen. Verstohlen wischte ich mir Tränen weg. Als wenn man auf der Bühne etwas verbergen könnte. Alles ist sichtbar. Also hielt ich inne, nahm ein Taschentuch heraus und sagte: „Dann lassen Sie uns gemeinsam einen Moment lang schluchzen.“ Die Gäste atmeten auf und lächelten.

Fontis in Winterthur

Fontis in Thun

in Bern

Zwischen den Texten spiele ich Musik ab. Ich kopple mein Smartphone mit der Lautsprecherbox. Nach und nach habe ich verstanden, was ich alles ausschalten muss, damit es nicht über die Box läuft z. B. das Telefon. Einmal rief mein Sohn an. „Mama kurze Frage: Welches Waschprogramm muss ich für Unterwäsche wählen?“
Das Publikum hörte mit und lachte.
Siri muss man auch ausstellen, sonst beantwortet sie Frage, die in den Texten aufgeworfen werden.
„Ohne Internet kann ich die Frage nicht beantworten“, sagte sie. Alle lachten. Hastig wischte ich Siri weg und suchte die Musikdatei.
Immer, wenn etwas dazwischenkommt, sage ich nun: „So ist das Leben. Es läuft anders, als gedacht.“

Ja, und dann nicken alle und ich spreche - lese - erzähle und schaue in Gesichter, spüre die Atmosphäre und weiß: Wir sind verbunden. Dann ist eine Lesung immer mehr als nur eine Veranstaltung – sie ist ein wunderbares Miteinander.