Rührig im Advent

Ich werde rührig in der Vorweihnachtszeit, nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich. Die empfindlichen Pflanzen habe ich mit Tannenzweigen abgedeckt, eine Gartenbank und das Grab meines ersten Mannes sind geschmückt, ebenso unser Treppenhaus und die Wohnung.
Seit über zwanzig Jahren hole ich die kleinen roten Strümpfe hervor. Meine Oma hatte sie mir zum ersten Weihnachtsfest nach meiner Hochzeit geschenkt. 24 Söckchen. Selbstgestrickt. Ich habe meine Oma für ihre Sockenstrickkunst bewundert. Wir haben immer Socken von ihr bekommen. Alle haben Socken von ihr bekommen zu Geburtstagen, Ostern und Weihnachten. Meine Oma hatte Hände wie Tatzen. Durch Erfrierungen waren ihre Gelenke geschwollen und ihr Fingerring war groß wie ein Schlüsselring. Dass sie die vielen dünnen Nadeln halten konnte, überraschte mich.
Jedes Jahr packe ich die Söckchen aus. Seit 18 Jahren tue ich Kleinigkeiten hinein. Seit 16 Jahren gibt es zweimal 24 Söckchen. Ich liebe es, mir zu überlegen, was ich in diesen besonderen Adventskalender tue. Es passen nur Kleinigkeiten hinein, babystrumpfgroße Kleinigkeiten.
Ich nahm einen Strumpf in die Hand und musste schmunzeln. Oma lebte mit ihrer Schwester zusammen. Die Frauen haben um die Wette gestrickt, aber die Schwester war nicht so gründlich. Sie ließ Maschen fallen, verstrickte sich bei der Ferse und weil sie gern Schokolade naschte, hatten das Strickwerk Flecken
„Ach, Rutchen“, seufzte meine Oma, korrigierte den Fehler und wusch Schokoflecken aus.
Ja, Schoki tue ich in die Strümpfe – neuerdings auch Proteinriegel.

Wie schön war es, als Murmeln, Seifenblasen und Hotwheels größtes Kinderglück waren oder Badefarbe, Kreisel und Jojo. Was schenke ich jetzt jungen Männern? Armbänder, Ringe oder Nagellack interessiert sie nicht, aber das hätte die perfekte Größe. So grüble ich jedes Jahr und denke sehnsüchtig an die Kindertage zurück. Es sind schöne Erinnerungen. Selbst als Thomas starb und wir das erste Weihnachten ohne den Papa verbrachten, gab es diesen Kalender für meine Söhne. Eine Freundin hatte Kleinigkeiten in Geschenkpapier gewickelt, ich tat sie in die Strümpfe und staunte, was alle hineinpasste – Mützen, Knallfrösche, Gummitwist.

Heuer, wie meine fränkische Schwiegermutter sagen würde, heuer verschickte ich zum ersten Mal den Adventskalender. Unser großer Sohn ist ausgezogen – zu weit, für einen Tagesausflug aber nah genug, um sich einmal im Monat zu sehen. Weder ich noch er können auf unsere Tradition verzichten und so sind wir verbunden. Wenn unser jüngerer Sohn seine Strümpfe von der Leine pflückt, hat er die gleiche Kleinigkeit wie der große Bruder in der Ferne – Schoki, Stifte, Dextrose, Deo, Gummibärli, dies und das.

So vergeht die Zeit und ich bin rührig. Ich denke an die Alten mit ihren liebenden strickenden Händen. Sie leben nicht mehr. Ich denke an die Jungen, die ins Leben ziehen und ich bin dazwischen. Ich bin zwischen Erinnerungen und Neuerungen, zwischen bewahren und loslassen. Dazwischen — und das ist gut so.