Fühlst Du es nicht?

Ich singe gern, aber nicht gut.
Vor vielen Jahren hatte ich Gesangsunterricht genommen, weil mein verstorbener Musiker-Mann Thomas meinte, dass ich eine schöne Sprechstimme habe. Er fragte, ob ich mit ihm singen möchte. Ja! Unbedingt! Das wäre toll!
Also nahm ich Unterricht, zuerst klassisch, dann popular. Beides war Murks. Ich quälte mich und die Lehrerinnen, denn ich traf die Töne nicht und das Schlimmste: Ich wusste es. Irgendwann habe ich das Singen aufgegeben.

Vor Monaten machte ich ein Stimm- und Sprechtraining. Zuerst sollte ich Töne
nachsingen.
„Oje, das kann ich nicht.“
„Probieren Sie es einfach.“
Probiert. Gescheitert. Dann gestand ich, dass ich schwerhörig bin und Hörgeräte trage (siehe letzter Post).
„Ja, kein Wunder, dass Sie die Töne nicht treffen. Wenn Sie sie nicht richtig hören, dann müssen Sie sie fühlen.“

Wie fühlt man Töne? Indem man seinen Körper wahrnimmt, innehält und sich konzentriert. Schöne Töne sind geschmeidig wie Seife. Sie gleiten dahin und schweben wie Blasen durch die Luft. Ich fühle sie auf meiner Haut. Schiefe Töne hingegen sind kratzig, spitz oder unbequem wie Kieselsteinchen im Schuh. Wenn ich singe, eile ich den Seifenblasen hinterher. Manchmal stolpere ich oder rutschte auf schiefen Tönen aus. Dann stehe ich auf und übe. Dafür ziehe ich mich ins Wohnzimmer zurück. Einmal riss mein Sohn die Tür auf und fragte: „Guckst Du ohne uns einen Film über Werwölfe?“
„Nein, ich übe eine Tonleiter.“ Enttäuscht schloss er die Tür. So hörte es sich also an, wenn ich singe? Heulende Werwölfe?

Ich lerne immer noch, wie und wo ich den richtigen Ton in meinem Körper fühlen muss. Mal ist es in der Stirn, auf dem Zungengrund, hinter dem Brustbein oder tief im Bauch. Das, was andere hören, kann ich (ein wenig) durch Spüren ausgleichen. Je besser ich mich kenne, umso empfänglicher werde ich für
Misstöne.

Auch in unserem Miteinander gibt es oftmals schiefe Töne: Vorurteile, Ungerechtigkeit, Ausgrenzung. Wenn man diese kratzigen, spitzen oder schmerzhaften Töne nicht hört, dann versuche, sie zu fühlen. Denn so lässt sich das eigene Denken und Verhalten ändern.
Hineinfühlen. Nachfühlen. Mitfühlen.