ungehört
Ich bin aufgeschmissen. Lange habe ich mich durchgewurschtelt, mich entschuldigt oder Ausreden gefunden. Doch jetzt habe ich keine andere Wahl. Alle tragen Mundschutz und spätestens im Gespräch mit Kolleginnen oder Patienten muss ich mich outen: Ich bin schwerhörig und trage Hörgeräte. Der Mundschutz nimmt mir die Möglichkeit, von den Lippen zu lesen oder Mimik zu deuten. Wenn ich versuche, ein Gespräch situativ zu interpretieren, wird es lustig oder peinlich (für mich meistens peinlich).
Ich weiß nicht, warum ich nicht unbeschwerter mit der Situation umgehe. Schwerhörigkeit ist eine Schwäche wie Fehlsichtigkeit. Allerdings sind Hörgeräte (noch) kein Modeaccessoire wie Brillen. Man kennt sie eher an alten Menschen, denen bananengroße Hörgeräte hinters Ohr geklemmt werden und trotzdem schreit man den Leuten ins Gesicht.
Meine Kinder wissen, wie ich sie am besten verstehe, und sie werden auch nicht ungeduldig, wenn sie sich wiederholen müssen. Zugegeben, es hat für sie auch Vorteile, dass ich nicht alles mitbekomme.
Ein Handicap zu verbergen ist anstrengend. Bei Gesprächen in einer Gruppe bin ich angespannt, weil ich mich bemühe alles mitzubekommen. Ich präge mir die Stimmfarbe meiner Gesprächspartner ein, damit ich sie leichter orten kann. Sobald eine Sprachmelodie höher wird, ist meine Konzentration am Zerreißen. Es könnte mir eine Frage gestellt werden. Ständig entschuldige ich mich und bitte um Wiederholung, statt zu sagen: „Bitte sprechen Sie lauter. Ich bin schwerhörig.“
Ich hatte mal einen kleinen Patienten, der von seinem Opa in die Praxis gebracht wurde. Der Mann trug abgefetzte Bauarbeiterkleidung, sprach wenig und verwaschen. Er brauchte viele Erklärungen. Ich dachte, Mannomann, der ist aber schwer von Begriff. Irgendwann kam seine Frau in die Praxis und sagte: „Mein Mann ist taub und er schämt sich dafür. Er liest alles von den Lippen.“
Er schämt sich??? Ich habe mich geschämt. Dabei müsste ich es besser wissen und vor allem besser nachfühlen können. Viel eher halte ich einen Menschen für dumm, als anzunehmen, dass ein Handicap ihn beeinträchtigen könnte. Ich bin betroffen (nicht nur im übertragenen Sinn).
Flucht nach vorn! Wir sollten uns nicht für unsere Schwächen schämen.