Seid Menschen

Seit über 20 Jahren trage ich eine Kette mit zwei Anhängern: ein Kreuz und einen Davidsstern. Immer wieder sprechen mich Menschen an. Mal sind sie neugierig und mal erstaunt.
„Das geht doch nicht!“, sagte ein Verkäufer im Baumarkt. „Entweder-oder. Doch nicht beides.“
„Mein Christus ein Jude“, erwiderte ich.
Als Christin fühle ich mich mit dem jüdischen Glauben verbunden. Mir ist bewusst, dass sich an meine Kette auch Empörung aufhängt wie Israelkritik, Nahostkonflikt, Terrorgefahr. Die aktuelle nationalistische Regierung in Israel darf und muss kritisiert werden. Die Hamas ist zu verurteilen. Familie Mensch leidet. Mein Christus ein Jude, vier Worte, die auch positive Reaktionen hervorlocken. Plötzlich erfahre ich, dass eine Kollegin Jüdin ist. Sie wolle es nicht nach außen tragen, sei auch nicht tiefreligiös, aber das Judentum ist Teil ihrer Identität und viel zu oft Angriffsfläche für Antisemitismus. Ich will etwas sagen und bleibe wortlos.

Wie eine Familie
Zehn Wochen lang besuche ich Klassen in Münchner Brennpunktschule. Gemeinsam schreiben wir Geschichten. Ich brauche lange, bis ich mir die Namen merken kann. Ich brauche noch länger, bis ich sie korrekt ausspreche. Tarek und Nadila, Arbenit und Gjergi, Özkök und Lütfiye.
Wenn ich den Pausenhof betrete, komme sie mir oft entgegen. „Hallo Frau Susanne“, sagen sie und fragen, ob sie meine Tasche tragen dürfen. Ich bin froh, dass ich diese Seiten von ihnen kenne, weil ihr Verhalten im Unterricht oftmals eine Katastrophe ist. So laufen wir über den Schulhof und Elif fragt, ob ich Jüdin sei. Sie hat meine Kette entdeckt.
„Nein, ich bin Christin. Ich glaube an Jesus.“
„Ich bin Moslemin. An Jesus glaube ich auch. Er ist ja unser Prophet.“
„Dann haben wir etwas gemeinsam!“, sage ich.
Sie strahlt und wirkt ein paar Zentimeter größer. Andere Kinder schließen sich unserem Gespräch an. Sie fragen, warum ich nicht auch einen Halbmond trage. Ich gestehe, dass ich mich im moslemischen Glauben nicht so gut auskenne. Dann reden wir über die Feste, die uns wichtig sind. Weihnachten und Zuckerfest, Ostern und Opferfest. Elif erklärt, dass sie das Opferfest kurban bayrami nennen, und ich fürchte, dass ich mir den Namen nicht merken kann. Ich erzähle ihnen, dass jüdische Kinder Chanukka statt Weihnachten feiern und es auch Geschenke gibt.
„Das ist doch wie bei uns. Als wären wir eine große Familie“, sagt Elif. Ja, denke ich, Familie Mensch.

Das kleine Gespräch war ein heiliger Moment. Diese wunderbare Erkenntnis, dass wir als Menschen miteinander verbunden sind. Der Regenbogen wurde doch für uns alle über dem Himmel gespannt. Mit der Menschheit schloss G-tt einen Bund des Friedens.
Die Holocaustüberlebende Margot Friedländer sagte: „Seid Menschen!“
So einfach, so schwer.

Nun trage ich mir die jüdischen und muslemischen Feiertage in meinen Kalender. Chanukka und Rosch ha-Schana, Ashura-Fest und Rammadan. Zu Festen gratulieren, kleine Geschenke reichen und Segenswörter sprechen, sind Formen der Wertschätzung. Sie schaffen heilige Räume in unserem Miteinander. Ich vertraue, dass mein Jesus oder ihr Prophet Iŝa diese Räume betritt und sagt: Shalom. Salam Aleikum. Friede mit dir.

Nachtrag:
Menschen, jüdischen Glaubens, empfinden es nicht als übergriffig, wenn ich den Davidsstern trage. Es ist ein religiöses und kein heiliges Zeichen. Wobei auch empfohlen wird, den Anhänger so zu tragen, dass ich ihn rasch verbergen könnte.

zuerst erschienen
Kolumne Menschenskinder, FamilyNEXT 6/24