Tiefblau

Ein halbes Jahr ist vergangen, seit mein Papa tot ist. Die Trauer hat mich geschluckt wie ein Wal. Alles fühlt sich dunkel und eng an. Die Traurigkeit ist ein gefährlicher Ort. Sie wird mich verdauen, bis nichts mehr von mir übrig ist. Wer bin ich denn noch? Felix, 14 Jahre alt, großer Bruder von zwei Schwestern. Ich war immer mit Kumpels unterwegs, liebte Kartenspiele, habe Volleyball trainiert, Biologie fand ich toll. Jetzt finde ich Biologie furchtbar, denn sie zeigt mir, was mit Papa passiert. Er liegt in der Erde in einer engen Kiste und wird von Mikroben zersetzt.

Mama gibt sich tapfer, aber ich sehe, dass sie weint. Sie zwinkert sich ihre Tränen weg oder tut so, als müsste sie sich schnäuzen. Mein Onkel räuspert sich immer so komisch, wenn ihm die Trauer bis zum Hals steht. Er tut dann locker und kumpelhaft. Ich wünschte, sie würden auch einfach mal alle losheulen. So richtig flennen, weil Papa schrecklich fehlt. Ich wünschte, sie würden mit mir gemeinsam weinen, dann wüsste ich, dass meine Tränen normal sind. Sie schließen mich aus Gesprächen aus und hoffen, dass sich meine Trauer verwächst. Sie sagen, ich soll mich mit Freunden treffen und ich dürfte Spaß haben. Trotzdem erwarten sie, dass ich regelmäßig mit ihnen zum Friedhof gehe und eine Kerze anzünde.
„Damit wir uns erinnern“, sagt Oma. Ich will mich nicht am Grab an Papa erinnern. Oma quengelt dann so lange, bis ich doch mitgehe. Ich habe schlechte Laune und bin gereizt. Mein Onkel sucht für mein Verhalten Ausreden und sagt, das sei die Pubertät. Nein, das ist nicht die Pubertät, das ist die Scheißtrauer. Sie macht, dass sich plötzlich alles anders anfühlt. Ich kann mich selbst nicht mehr leiden. Schon zweimal habe ich nachts ins Bett gepinkelt wie so ein Kleinkind. Ich schäme mich. Ich schäme mich für das, was diese Traurigkeit mit mir macht.

Ich wünschte, die Erwachsenen würden auch sagen, dass sie das alles nicht verstehen, dass sie es ankotzt und wie ungerecht das Leben ist.
Mein bester Freund hängt mit mir ab und manchmal sagt er nur: „Scheiße.“
Seltsam, dass ich mich dadurch mehr getröstet fühle, als wenn Oma von Himmel und Heiland spricht. Klar habe ich diesen Glauben, doch das ändert nichts daran, dass Papa schrecklich fehlt, und dass es so weh tut.

Erst dachte ich, das ist wieder so eine verdrehte Idee von Oma. Sie gab mir einen Zettel. Trauertreff für Teens stand darauf. Ich habe ihn in meine Hosentasche gestopft. Mit der Zeit war er ganz verkrumpelt wie ein kleiner Ball. Manchmal lasse ich ihn von einer Hand in die andere wandern.
„Du bist feige“, sagt mein Freund.
„Quatsch, bin doch nicht psycho. Ich gehe in keine Gruppe.“
Mein Freund nickt und wiederholt: „Hier bist du der Sonderling, dort wärst du einer von ihnen.“
Ich hasse es, wenn er so schlaumeiert und dabei noch recht hat.

Der Trauertreff ist wie ein Jugendtreff. Wir trinken Limo und hören Musik und irgendwann setzten wir uns zusammen. Max und Lena, die Trauerbegleiter reden mit uns. Wer nichts sagen will, darf schweigen. Ich schweige ziemlich viel, aber ich höre den anderen zu. Manchmal heulen wir so viel, dass unsere Augen anschwellen wie bei einem Frosch. Dann machen Max und Lena etwas mit uns, damit wir nicht im großen Geheule ertrinken. Lena hat Musik angeschaltet und wir haben wie wild getanzt. Erschöpft plumpse ich auf den Boden und höre mein Herz klopfen – zum ersten Mal seit Langem.
Max stellt große Leinwände auf und Tuben mit Acrylfarbe. Dann beginnt er den Satz: „In meinem schönsten Traum …“ Wir sollen den Satz zu Ende malen. Ich tobe mich aus mit Blau und Grün und Gelb. Plötzlich klatsche ich schwarze Farbe drauf und verschmiere sie mit den Händen. Plötzlich ist da eine Wut in mir und wälzt sich über die Farbe.
Max sieht mir zu. Ich halte inne und gehe ein Stück zurück.
„Felix, was siehst du?“
„Wut“
„Und was noch?“
„Bisschen Blau.“ Ich schaue auf mein Bild. Das Blau sieht aus wie ein Stück Himmel, das zwischen einem schwarzen Fensterrollo aufblitzt oder wie eine Luftblase in der Tiefsee. Ich erzähle Max davon. Er hört einfach zu, das finde ich cool.
„Ist deine Trauer wie die Tiefsee?“, fragt er.
Ich zucke mit den Schultern. Darüber muss ich erst nachdenken.

Die Trauer ist ein Meer, das mich trägt. Ich treibe hindurch, spüre Wellen und sehe Tiefen.

das mich trägt. Ich treibe hindurch und spüre Wellen und sehe Tiefen.

Ich gehe zum Trauertreff für Teens und stelle fest, dass wir auch ganz schön viel lachen. Es tut gut, dass ich Lachen kann. Ich dachte, ich würde nie mehr Lachen können. Das Beste ist, dass ich jetzt weiß, dass jedes meiner Gefühle wichtig ist.
Ich gehe nicht mehr zum Friedhof und Oma drängt mich auch nicht. Ich will meinen eigenen Weg finden, um an Papa zu denken. Manchmal erzählt Mama von einer gemeinsamen Erinnerung und dann lachen wir, um anschließend zu weinen, aber das ist auch okay. Die Tränen machen mir keine Angst. Ich werde nicht ertrinken. Die Trauer ist ein Meer, das mich trägt. Ich treibe hindurch und spüre Wellen, ich sehe Tiefen, die meine Kumpels noch nie gesehen haben. Da ist eine Weite um mich herum und ganz viel Blau. Himmelblau. Hoffnungsblau.