Aufgeregt

Wie oft habe ich für Anstand in der Kommunikation geworben? Wie oft versuchte ich, die Meinung der anderen zu verstehen? Jetzt sehe ich rot! Das Thema lässt mich nicht los: #metoo!

Wer ist schuld?
In Wellen schwappen Missbrauchsvorwürfe über unsere Gesellschaft. Mal ist es der Skandal in der Kirche, mal in der klassischen Musik, mal im Fernsehen, in der Politik, im Sport, in der Rockmusik, in Jugendvereinen. Eine Welle kommt und spült Rammsteinsänger Lindemann an. Eine nächste wird kommen und ein anderes Reptil steigt auf. Immer gilt die Unschuldsvermutung und meistens wird die Glaubwürdigkeit der Opfer infrage gestellt. So mancher Kommentar unter Socialmedia-Beiträgen lässt mich erschaudern: Täter-Opfer-Umkehr und Erklärungsversuche: Er ist doch nicht verurteilt. Sie muss das erst beweisen. Sie will sich nur wichtig tun. Hätte sie das nicht angezogen, hätte sie nichts getrunken, ja dann …

Liebe Frauen, wie oft wurdet ihr bedrängt oder seid vorsichtshalber einen anderen Weg gegangen? Es passierte mehrmals, dass sich Männer mir gegenüber in die U-Bahn setzten, die Beine spreizten, sich in den Schritt griffen und kneteten. Damals war ich zu unsicher, um zu protestieren. Ich schaute weg, Augenkontakt hätte ihn vielleicht ermutigt. Ich blieb sitzen, ein Weggehen hätte vielleicht meine Schwäche impliziert. Der öffentliche Raum ist noch immer kein sicherer Ort – auch nicht vor 22 Uhr.

Wie kann sie nur?
Mein Sohn erzählte, dass jedes Mädchen in seinem Bekanntenkreis einen verbalen oder handfesten Übergriff erlebt hat. Fünf Halbstarke kreisten eine Klassenkameradin ein und wollen ihre Handynummer oder zwei junge Männer blieben stehen und bestaunen die Oberweite einer Siebzehnjährigen. Ich dachte, wir wären schon weiter. Haben die Mütter und Väter dieser Jungs nichts dazugelernt? Ich dachte, der #metoo-Tsunamie hätte toxische Verhaltensmuster aufgeweicht oder gar weggespült. Letztens warf mir ein Mann vor, dass der Feminismus Männer diskriminiert. Was? Von Gleichberechtigung profitieren doch alle – auch Jungs.

Ich bin dünnhäutig. Soll ich mir ein dickes Fell anschaffen? Für ein Buchprojekt interviewte ich Frauen, die Opfer von häuslicher und sexualisierter Gewalt wurden. Ich besuchte eine Frau im Gefängnis. Immer, wenn sie von ihrem Partner gedemütigt oder verprügelt wurde, bestellte sie sich etwas im Internet – eine kleine Belohnung für einen kurzen Glücksmoment. Weil sie die Rechnungen nicht zahlen konnte, wurde sie wegen Betrugs verurteilt und bekam drei Jahre Haft (die Taten des Mannes hatte keine Konsequenzen). Menschenskinder!

Und was tut er?
Erschrocken höre ich die immer gleichen Geschichten, wie Frauen in toxischen Beziehungen lernen, dass sie nichts wert sind, dass es ihre Schuld sei, wenn sich der Mann nicht beherrschen könne. Diese Tätermasche funktioniert. Es wird gefragt: Was hatte sie an? Wie hatte sie sich benommen? War sie angetrunken? Wieso geht sie auf das Konzert oder in die Disco? Es ist zum Heulen. Ich bin froh über jeden Mann, der seine Stimme erhebt oder über meine Söhne, die sich dagegen wehren, dass Mannhaftigkeit etwas mit Gewalt zu tun hat. Wir Frauen brauchen keine mutigen Ritter oder edlen Prinzen. Wir brauchen Verbündete, die sich für Gleichberechtigung einsetzten. Wir sollten Mädchen nicht beibringen, dass sie hübsch sind oder Prinzessinnen. Wir sollten ihnen beibringen: „Du hast Würde! Niemand darf dich mit Worten oder Taten herabsetzen.“
Ein Selbstbild, das von Würde geprägt ist, weiß, wenn uns etwas schadet oder wann jemand zu weit geht. Die Würde in uns befähigt uns, Grenzen zu setzen und Rückzugsorte zu schaffen oder sich aufzuregen, wenn andere geringschätzig behandelt werden.



 zuerst erschienen in FamilyNEXT6/23