Schogetten in der Zone

Ich wuchs an der Oder-Neiße-Friedensgrenze auf und war angeblich ein Kind des Sozialismus mit der Sowjetunion als übergroßen Bruder. Viel mehr bin ich die Tochter von Helga und Rainer, habe einen großen Bruder und meine Heimatstadt ist Frankfurt an der Oder.
Meine Geburt war ein so freudiges Ereignis, dass meine Eltern 1976 vergaßen, zur Wahl zu gehen.
Die Mitarbeiter der Staatssicherheit klingelten und zwangen meine Eltern, für Freiheit und Demokratie zu wählen. Die Wahl war erschreckend einfach. Obwohl es mehrere Parteien gab, hatten alle Genossen und Genossinnen eine zweite Mitgliedschaft in der SED. Die Entscheidung zwischen Bauernpartei, Kommunistische Partei oder Liberaldemokratische Partei mündete immer in die SED. Der Staatsratsvorsitzende dankte dem Volk und freute sich über 99 % Zustimmung.
Als Schulkind fragte ich mich, warum die Partei nicht zu 100 % gewählt wurde. Wer waren diese 1 % Menschen, die sich nicht für Honecker und seine Bonzen entschieden? War es eine Alibi-Zahl, um der Welt zu zeigen, dass die DDR keine Diktatur war?

Die Hälfte unserer Verwandtschaft lebte im faschistischen Westen und schickte uns regelmäßig Pakete mit Schogetten und Scheibletten. Aus Briefen erfuhren wir, dass sie auch Comics und Gummibärchen hineingetan hatten, aber offensichtlich wollte uns der Grenzschutz vor dem imperialistischen Gedankengut und Geschmack schützen und steckte die Sachen in ihre eigenen Taschen und Münder.
Schon als Kind wusste ich, dass man die DDR und ihr Programm nicht ernst nehmen konnte. Die Partei proklamierte: „Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen!“
Das Volk nuschelte: „Von de Swjetion lern, heißt siechen lern.“
Man nahm der DDR-Führung ihre bolschewistische Elternrolle nicht ab. Margot Honecker war eine Schreckensfigur, und nach der Wende erfuhr man, was sie unter Umerziehung verstand: Zwangsadoptionen und Jugendgefängnis.

Von de Swjetion lern, heißt siechen lern.

Das Bildnis des ersten Sekretärs des Zentralkomitees prangte in jedem öffentlichen Raum, ob Schule, Post, Bibliothek oder Jugendklub. Wie eine Ikone hing Erich Honeckers Porträt an der Wand und verfärbte sich in den 18 Jahren seiner Regierung von einem Hautton ins gelbgrüne. Keiner konnte ihn leiden, denn die Menschen wussten, dass sich die Staatsriege in ihre Villen mit kapitalistischen Möbeln verkroch. Zur Jagd ging EH in die Schorfheide, und wenn wir dort spazieren waren, zeigten unsere Freunde mit dem Finger durchs Geäst und sagten: „Dort, ganz dort hinten, hinter den Zäunen steht Honis Haus.“

Einmal schrieb meine Mutti Honecker einen Brief. Sie wollte ihre Mutter in Ludwigshafen zum Geburtstag besuchen, aber die Ausreise wurde abgelehnt. Niedergeschlagen kam meine Mutti aus dem Amt, und ich weinte, weil sie weinte. Ob Honi den Beschwerdebrief je gelesen hatte?
Manchmal habe ich mir vorgestellt, wie es wäre, meine Oma zu besuchen. Einfach so!
Einmal im Jahr reiste meine Oma zu uns und zahlte für jeden Besuchstag 20 DM. Bei 21 Tagen und einem Wechselkurs von 1:5 blechte sie satte 2100 Ostmark für ihren Aufenthalt in der DDR. Ein Höhepunkt bei jedem Besuch war der Ausflug in den Intershop. Die Menschen gingen in diesen Laden, wie in ein Museum und bestaunten die Westware in den Regalen. Ich durfte mir eine Barbiepuppe aussuchen und mein Bruder eine Schallplatte.
Monatelang hatten wir Zeit, uns auf den Besuch zu freuen, und wenn Oma dann endlich da war, zählten wir wehmütig die gemeinsamen Tage. Der Abschied war immer schwer und wir fanden Trost im Miteinander der Familie. Man hielt zusammen. Die Väter machten aus Scheiße Gold, indem sie ihre Talente tauschten. Mein Papa baute Türen für seinen Cousin, dafür verlegte der Onkel die Elektrik in unserem Haus. Man tauschte Äpfel gegen Kartoffeln, Fliesen gegen Zement, Schaumküsse gegen Ketchup. Denn man konnte sich nicht kaufen, was man brauchte.
Manchmal blätterte ich sehnsüchtig durch einen alten Versandhauskatalog und erträumte mir pipimachende Babypuppen und neonbunte Filzstifte. Mein Bruder markierte Kassettenrekorder und Turnschuhe. Wir hegten und pflegten diesen Katalog über Jahre und schauten ihn wie ein Bilderbuch an.
Dabei wurden wir beobachtet. Der Westbesuch und unsere Kirchenzugehörigkeiten machten unsere Familie für die Stasi verdächtig. Als wir nach einem Ausflug nach Hause kamen, erkannte meine Mutti sofort, dass etwas anders im Wohnzimmer war. Sie richtete die Sessel immer mit den Rückenlehnen zum Fernseher aus, sodass man sich unterhalten konnte und dabei nicht in die Glotze guckte. Aber nun standen die Sessel einladend für einen Fernsehabend bereit. Was haben sie gesucht? Bedrohten Otto-Katalog und Luther-Bibel den antifaschistischen Schutzwall?

Nach der Wende sichteten meine Eltern ihre Stasi-Akte. Für viele war das ein traumatisches Erlebnis, denn Vertraute hatten das Leben des anderen gewissenhaft dokumentiert.
Weil Religion Opium fürs Volk sei, so behauptete es zumindest Karl Marx, wurden Gläubige belächelt und verachtet.

Opium fürs Volk?

Während meine Mitschüler vorbildliche Thälmannpioniere waren und sich in einer AG für eine bessere sozialistische Zukunft einsetzten, ging ich in die Christenlehre. Meine Klassenkameraden machten ihre Witze und fragten, wo denn dieser Gott sei. Schließlich hatte selbst der Kosmonaut Juri Gagarin keinen gesehen. Wenn die Lehrerin diese Hänseleien mitbekam, nahm sie mich aber, Gott sei Dank, in Schutz. Auch ohne Pionierabzeichen war ich eine gute Schülerin. Ich liebte die Geschichten über Jesus, dem Friedefürsten, Menschenfreund, Herzenskenner.
Meine Eltern gehörten zum Freundeskreis der Herrnhuter Brüdergemeine, und weil es nur wenige Christen gab, zogen Prediger von Ort zu Ort. Wenn sie in den Oderbruch kamen, übernachteten sie bei uns. Ich setzte mich zu den Erwachsenen und lauschte den Gesprächen, bis mich meine Mutti ins Bett schickte.
Die Herrnhuter losen jährlich Bibelstellen für ihr Losungsbuch aus. Als der Vers „Mit meinem Gott kann ich über Mauern springen“ (Psalm 18,30) ausgelost wurde, wurde er von der Regierung verboten. Eine gottlose Regierung fürchtet einen Bibelvers. Mich freute der Gedanke, dass die Herrn Genossen Angst hatten. Offenbar gab es etwas, dass sie nicht mit Selbstschussanlagen, Bespitzelung und Gängelung kontrollieren konnten.

„Schwerter zu Pflugscharen“ war ein Motto meiner Jugendtage, und dieses Bild haftet in meiner Erinnerung: Ein Mann pflügt einen Acker mit einem ehemaligen Schwert. Wie lassen sich Maschinengewehre und Panzer umbauen, um das Land zu kultivieren? Die Friedensbewegung trieb die Menschen auf die Straße. Freiwillig. Leidenschaftlich. Mutig. Das stand im Gegensatz zu den Demonstrationen an sozialistischen Feiertagen, denn das waren Pflichtveranstaltungen mit langen Märschen und langweiligen Reden. Dabei schleppten wir kommunistische Wink-Elemente, wedelten mit roten Nelken und verdrehten die Augen, wenn die Lautsprecher plärrten: „Die Partei, die Partei, sie hat immer recht.“

Auf den Montagsdemonstrationen und Friedensmärschen zogen wir am Gebäude der Staatssicherheit vorbei, trugen Kerzen und sangen „Eine feste Burg ist unser Gott“. In den stillen Momenten zwischen den Strophen hörten wir hinter den Eisentoren, das Hecheln der Hunde, den dumpfen Ton von Stiefelstampfen und hofften auf Gottes Schutz.

Der Psalmist verkündete: „Mit unserem Gott können wir über Mauern springen.“ Wir sprangen nicht, aber 1989 fuhren wir mit der S-Bahn nach Berlin und hämmerten graffitibesprühte Steine aus der Mauer. Die Mauersteinchen schenkten wir unserer Westverwandtschaft als Andenken. Nein, wir hatten ja plötzlich keine Westverwandtschaft mehr sondern eine Oma, Onkels und Tanten, Cousinen und Cousins, die wir jederzeit besuchen dürfen. Mein Wunder — noch immer.

Schwalben, ein Symbol für Veränderung

 

Zuerst erschienen in „Für mich bist du ein Wunder“
Andi Weiss (Hrsg), Gerth Medien, 2020