Ich buchstabiere!

Selten, dass jemand meinen Nachnamen auf Anhieb korrekt schreibt. Er ist nicht schwierig nur etwas ungewöhnlich. Ich sammle Briefköpfe mit meinen Namensvariationen: Opelhaus, Ospelklaus oder Opselkraus.

Für gewöhnlich buchstabiere ich: Otto – Siegfried – Paula – Emil – Ludwig …
Ich zähle auf und merke nicht, dass ich die Buchstabiertafel der Nazis benutze. In der Weimarer Republik hieß es Samuel statt Siegfried, Nathan statt Nordpol oder David statt Dora.
Über Nordpol bin ich immer wieder gestolpert. Alles andere sind Vornamen, nur der Buchstabe N wird einem Ort zugeordnet? Das ist kein Zufall. Das war Berechnung, so wie alles, was unter den Nationalsozialisten beschlossen wurde.

Blonder Siegfried und arischer Norden
Man kultivierte den Mythos, dass das Reine, Edle und Arische aus dem Norden stammt gegenteilig dazu der Jude Nathan. Nathan wie der Prophet aus der Bibel, der Kritiker und Ermahner oder wie Nathanael der Jünger Jesu, der Vertraute und Weggefährte oder wie Nathan der Weise aus der Ringparabel von Lessing – entlarvend und zugewandt.
Nun bemühe ich mich, statt Siegfried Samuel zu sagen. Doch die Gewohnheit ist groß. Wenn ich Namen sage oder höre, habe ich gleich Bilder vor Augen. Ja, Siegfried ist der blond gelockte Recke aus den Nibelungen, unbesiegbar bis auf die kleine Stelle zwischen seinen Schulterblättern.
Nathan: Da denke ich an einen Orientalen und an den Fußballkameraden unseres Sohnes.

So viel Verlust
Es ist zum Heulen, was Deutschland alles im 3. Reich verloren hat. Mit den Menschen wurden Geschichten, Kultur und Sprache vergast.
Wie hätte sich unsere Sprache entwickelt, wenn unsere Mitmenschen Jiddisch sprechen würden? Ich mag die Serien Shtisel und Unorthodox. Manche Dialoge sind auf Jiddisch. Da brauche ich nicht den Untertitel zu lesen, ich verstehe das meiste.
Der Verlust beschäftigt mich. In München gab es drei jüdische Restaurants. Das Schmock schloss, weil der Besitzer so viel Angriffe und Schmähungen erlitt. In das Restaurant neben der Synagoge kommt man nur mit einem Sicherheitscheck. Selbst das kleine Messerchen an meinem Schlüsselbund, nicht größer als ein Zahnstocher, musste ich bei der Security abgeben, um eine koschere Rotebeetesuppe löffeln zu können.
Die Münchnerin Nelly Kranz erzählte im Podcast Inspire, dass sie nie öffentlich ihre Kette mit Davidsstern trägt, dass sie ihre jüdischen Familienfeste unter Polizeischutz feiern und ihre Kinder nichts anderes kennen, als durch die Sicherheitsschleuse den jüdischen Kindergarten zu betreten. Menschenskinder, hört das nie auf? 

Das Gute sehen
Als der Religionswissenschaftler und Antisemitismusbeauftragte Michael Blume anregte, die Buchstabiertafel zu korrigieren, gab es viel Protest. „Das geht zu weit? Die Gesellschaft hat doch ganz andere Probleme? Wieso unsere Sprache verhunzen? Nachher müsse man auch noch arabische Namen in der Tafel aufnehmen!“
Also, wenn es so einfach sein kann, sich zu erinnern und jüdische Kultur zu beleben, dann werde ich häufiger meinen Namen buchstabieren. In letzter Zeit habe ich nur meinen Vornamen genannt, wenn ich einen Tisch beim Italiener oder Nummer 130 im vietnamesischen Imbiss bestellte.

Es gibt auch gute Nachrichten. Nach Jahren öffnet das Schmock wieder seine Restauranttüren diesmal unter dem Schutz des Münchner Volkstheaters. Wenn ich jetzt einen Tisch bestellte, buchstabiere ich: „Otto – Samuel – Paula – Emil – Ludwig – Konrad – Anton – Ulrich – Samuel.“


zuerst erschienen in der Kolumne Menschenskinder, Family 1/22