Beschenkt!

Das Leben hat uns nichts geschenkt, oder doch?
Viele interessante Begegnungen habe ich in der S-Bahn. Vor allem mit älteren Menschen, die mit ihrem Seniorenfahrschein, Pardon Isarcard65, durch München tingeln. Gewiss, die Coronasicherheitsmaßnahmen erschweren die Kommunikation, doch das hält manche nicht davon ab, trotzdem zu plaudern.

Ich traf eine Dame mit Rollator. Sie erzählte, dass sie vor 50 Jahren die Brasilianische Siegerin in der Disziplin Langstrecken-Schwimmen im offenen Meer war. Als General Figueiredo das Land beherrschte, floh sie nach Europa.

Die meisten Mitreisenden beschäftigen sich mit ihrem Smartphone und tragen Kopfhörer. Sie beamen sich aus dem Moment, bekommen nicht mit, was um sie herum geschieht. Sie bemerken nicht den Flaschensammler, der in die Abfallbehälter schaut. Sie sehen nicht die Mutter, die sich mit dem Kinderwagen müht. Sie hören nicht mehr das Gebrabbel von den Unzufriedenen. Ja, die fahren auch ständig S-Bahn. „Schleich di mit deim Glump.“ So motzt mich ein Herr an, weil meine Tasche den Nachbarsitz berührt. Es gibt die Döser und Nachdraußengucker, die Smartphonewischer und Zeitungsleser, die Gesprächigen und die Nörgler. Menschenskinder eben.

Leuchtende Farben
Die Stimme einer alten Dame bohrt sich in meinem Ohr: „Das Leben schenkt uns nichts. Nichts ist umsonst!“ Sie lamentiert und klagt. „Alles muss man sich erarbeiten. Alles!“ Dabei hebt sie den Zeigefinger und stempelt das Ausrufezeichen in die Luft. „Es wird einem nichts in den Schoss gelegt.“ Alles? Nichts?

Ich schaue aus dem Fenster, dabei gibt es nichts zu sehen. Die S-Bahn fährt unter der Stadt hindurch. Es ist dunkel, und ich überlege: Nichts wurde mir geschenkt? Aber mir wurde doch das Leben geschenkt, die Tatkraft am Tag und die Ruhe in der Nacht. Schlaf ist ein Geschenk. Der Körper darf sich regenerieren. Erlebtes wird verarbeitet. Erst wenn uns etwas den Schlaf raubt, fällt uns auf, wie wohltuend er ist.

Der Zug rollt in den nächsten Bahnhof. Jede Station leuchtet in einer anderen Farbe. Grün. Gelb. Weiß. Ich darf mich beschenken lassen von einer überwältigenden Natur, von Margeriten, die sich durch Betonritzen zwängen, von Amseln, die ihre Nester auf Fenstersimsen bauen und von Regentropfen, die das Licht in bunte Farben brechen.

Die Sonne scheint, selbst wenn der Himmel wolkentrüb ist. Jeden Morgen ist sie wieder da, ob wir den Tag begrüßen oder nicht. Wir stellen die Uhr nach ihr, ob wir Zeit haben oder nicht.

Den Moment gestalten
„Nächster Halt Marienplatz.“ Orange ist seine Farbe. Orange wie Signalwesten, Katastrophenschutz und Feuer. Orange wie die Wut, wie die Revolution in der Ukraine oder die Proteste gegen Frauengewalt „Orange your city“. Uns wurde die Sehnsucht nach Gerechtigkeit, Frieden und Freiheit geschenkt. Wo wären wir ohne unsere Träume und Visionen?

Aus dem Lautsprecher plärrt es: „Karlsplatz. Stachus.“ An der Oberfläche steht der Namensgeber für diesen Platz – Eustachius. Die Bronzefigur eines nackten Jungen sorgte bei seiner Errichtung vor über 100 Jahren für Aufsehen. (Empörte Münchner protestierten, indem sie dem Bildhauer 300 Schlüpfer schickten.) Heute sitzen die Menschen zu seinen Füßen, schwatzen, halten inne, schlecken Eis und lauschen den Straßenmusikern. Uns wurde die Fähigkeit geschenkt, den Moment zu gestalten, ihn mit Freude und Schönheit zu füllen.

Der Zug bremst. Ich halte mich am Griff fest. Meine Mitfahrerin steht direkt vor mir. Sie brubbelt noch immer in ihre FFP2-Maske. „Nichts wird einem geschenkt.“ Ein junger Mann öffnet die Tür und lässt sie vor. Diese freundliche Geste hat sie nicht bemerkt. Schade!


zuerst erschienen in der Kolumne Menschenskinder
von FamilyNEXT 5/21