Blick hinter das Buch
Seit 15 Jahren trage ich die Idee für „Die Gewandnadel“ mit mir herum. Es begann mit einem Gedanken:
Vor über 20 Jahren arbeitete ich als Ergotherapeutin in einem Seniorenheim des BRK. Ich betreute ehemalige Rot-Kreuzschwestern. All meine Beschäftigungsangebote winkten sie ab. Meine Frage, was sie denn in ihrer Freizeit gemacht hätten, lachten sie weg. Freizeit? Was ist Freizeit? Die Frauen kannten nur Arbeit. Ihr Dienst, ihr Leben.
Ich entschloss mich, biografisch mit den Frauen zu arbeiten, und dann erzählten sie Unfassbares über die Ostfront und Nordafrika im 2. Weltkrieg oder die erste Penicillingabe in München. Je schwächer eine Bewohnerin wurde, umso weniger Kontrolle hatte sie über ihre Erinnerungen und Gefühle.
Traumatische Erlebnisse drängten sich in den Vordergrund. Offenbar haben manche Frauen nie über ihre Erlebnisse der Kriegszeit gesprochen.
Ich wollte unbedingt diese gebrochenen Biografien erzählen. Doch wer würde sie in welcher Form veröffentlichen? Sind diese Frauengeschichten interessant? Gibt es dafür ein Publikum? Das wird sich finden, dachte ich und sammelte Zeitzeuginnenberichte.
Ich sprach mit Schwestern aus dem Dritten Orden, diakonischen Schwestern und den Rot-Kreuzschwestern.
„Darf ich ein Foto von ihnen sehen?“, fragte ich. Die Frau holte kleine schwarz-weiß Fotos mit gezackten Rändern hervor. Sie erzählte von der Arbeit, ihrer Berufung oder auch ihren unfreiwilligen Gang in die Schwesternschaft.
„Unfreiwillig?“
„Ja, wenn der Vater das wollte, weil die Familie so groß war … wir hatten keine Wahl.“
Im Archiv las ich unzählige Briefe von Schwestern, die sie während der Kriegszeit verschickt hatten. Ich fand wissenschaftliche Arbeiten über die Lazarettmedizin in Nordafrika der 1940er-Jahre, studierte alte Landkarten und malte Schiffsrouten ein.
Das war informativ, doch die Atmosphäre fehlte.
Über Social Media lernte ich Amazigh (Berber) kennen. Sie posteten Fotos von bunten Stoffen, Armreifen und Gewandnadeln. Stolz präsentierten sie ihre eigene Oma mit Tattoos auf Stirn und Wangen. Empört, enttäuscht und verärgert waren sie. Ihre Kultur müsse für den Tourismus herhalten, schimpften sie. Sie kämpfen dafür, dass Kinder auch in ihrer Stammessprache unterrichtet werden und nicht nur in Arabisch.
Stimmen die Fakten? Ist das korrekt? Wie kann ich eine Sprache in lateinischen Buchstaben wiedergeben, die so fremde Schriftzeichen hat? Diese Sorgen hingen über mir und trieben mich über Monate an.
Ganz vorsichtig nährte ich mich dem Thema und der Kultur. Ständig prüfte ich, ob ich Klischees oder Vorurteile bediene. Wer ist schon frei davon? Mein größter Wunsch ist, wertschätzend die unterschiedlichen Biografien zu erzählen.