Einhundert

Einhundert. Einhundert Jahre. Meine Oma feierte dieses Jubiläum – leider nur mit meinen Eltern, aber mit einer Gratulation des Bundespräsidenten. Corona hat unsere große Familie von dem Jubiläum ausgesperrt.

Was erlebt ein Mensch, wenn er einhundert Jahre durch die Zeit geht?

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Meine Oma war verheiratet, schwanger, Witwe und Mutter (in dieser Reihenfolge). Das geschah alles im ersten Viertel ihres Lebens. In den letzten 75 Jahren hat sich ihr Familienstand nicht geändert, aber die Anzahl der Enkelkinder und Urenkel. Sie erlebte die Weimarer Republik, Drittes Reich, Weltkrieg, DDR, Kalter Krieg, Wende und das jetzige Deutschland.
Es gab so viele Erfindungen und Entdeckungen, dass sie sich nicht aufzählen lassen: Penicillin, Teebeutel, Organtransplantationen, Nylonstrümpfe, Anti-Babypille, Fernsehen, Playmobilmännchen, Computer, Filzstifte, Teilchenbeschleuniger und Marsmobil. Viel Gutes und noch mehr Schlimmes geschieht. (Es flüchten, hungern und leiden mehr Menschen als je zu vor. Das Artensterben war nie so rasant wie in den letzten 100 Jahren.)

Meine Oma wurde östlich der Oder geboren, floh während des Krieges über den Fluss, um am anderen Ufer mit den Eltern und Geschwistern zu leben. Heimat ist ihr liebstes Wort. Nun zieht das Alter den Lebensradius enger um sie.

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Ihre Welt sind das Bett und die Erinnerungen.
Sie erzählt und träumt von ihrer großen Liebe, dem elterlichen Hof und Freizeit, die es doch kaum gab.

Nach der Wende hat sie endlich freie Zeit und genießt sie. Der erste Urlaub, das erste Mal in den Bergen, das erste Mal in einer Therme, der erste Urenkel … sie feiert die ersten Male. Nicht nur das – sie freut sich immer dreimal an einer Sache: Vorfreude, Jetztfreude, Erinnerungsfreude. Es ist ein Geheimnis, wieso einige Menschen trotz schmerzhafter Widrigkeiten in Lebensfreude aufblühen und andere bitterlich eingehen. Meine Oma ist so eine Geheimnisträgerin.

Einhundert Jahre ziehen sich durch ihre Seele und ihren Körper. Sie wird lebensmüde. Seit ich sie in ihrem hohen Alter erlebe, ist Lebensmüdigkeit zu einem guten Wort geworden. Sie braucht viel Schlaf und nickt in Gesprächen ein. Es ist eine wohlige Müdigkeit, wie wir sie kennen, wenn wir in Bewegung waren, Begegnungen hatten und Schönes erfuhren. Ja, sie ist auch lebenssatt, obwohl sie bescheiden gelebt hat, Verzicht und Verlust, Trauer und Schmerz kennt.

Wir wünschen uns immer, dass wir und unsere Liebsten vor Schwierigkeiten und Krisen verschont bleiben. Doch offenbar gehören sie dazu, um Lebensreichtum zu erfahren und am Ende der Zeit wohlig müde zu werden.