Vor einhundert Jahren
Vor einhundert Jahren erschien eine Erzählung von Ottilie Wildermuth. Ihre Geschichten sind aber viel älter. „Das Haus des Segens“ veröffentlichte sie 1866.
Viele Formulierungen und Worte passen nicht mehr in unsere Zeit. Wildermuth schrieb über Neger, weibliche Tugenden und Gehorsam innerhalb eines Patriarchats. Auf seltsame Weise hatten mich ihre Erzählungen getröstet, als ich damals mit meinen kleinen Kindern durch ein „Trauerland“ ging. Ich las das alte Buch zuerst alleine und später wurde es eine Gute-Nacht-Geschichte für meine Söhne. Wildermuths Erzählung handelt von einem Mädchen, dessen Mutter starb. Das Kind wünschte sich eine neue Mama, aber gleichzeitig schämte sie sich für diesen Wunsch.
Mein großer Sohn stellte mir mit seinen vier Jahren auch die Frage: „Wann bekommen wir einen neuen Papa?“
Sechs Monate lag der Tod seines Vaters zurück. Er machte mir sogar Vorschläge, wer alles sein Papa werden könnte. Allerdings waren die Männer schon verheiratet und hatten Familie.
In dem alten Kinderbuch fragt das Mädchen: „Ist mein Muttchen nicht traurig, wenn ich mir eine neue Mama wünsche?“
Diese Frage stellte sie wie selbstverständlich innerhalb einer anderen spannenden Handlung. Das mag ich und deswegen mag ich auch Nils Holgerson und Pinocchio. In den alten Kinderbüchern spiegelt sich die Gleichzeitigkeit des Lebens wider – nein, nicht alles entspricht der jetzigen Lebenswirklichkeit unserer Kinder, doch die Essenz wird deutlich: Leben und Sterben, Lachen und Weinen, Empfangen und Loslassen gehören zusammen und sind Teil unseres Alltags.
In einer Szene aus „Meine Reise durch das Trauerland“ begleitet uns die Trauer wie eine Person. Gemeinsam gehen wir in die Bibliothek. Die Trauer erzählt:
In der Bibliothek schälten wir uns aus der Kleidung, und die Buben bekamen rote Bäckchen. Wie gesund die beiden aussahen. Man sah der Familie nicht an, was sie erlebte. Ich schlenderte durch die Gänge, die Kinder waren mit ihren Bilderbüchern beschäftigt oder plauderten mit Kindergartenfreunden, die sie trafen.
„Zeig mal, Mama!”
Zwei Bücher hielt Susanne in der Hand. Ich kannte sie. Die Bibliothekarin schielte über ihren Brillenrand. „Wollen Sie wirklich diese mitnehmen? Wir haben auch lustige Bücher da.”
Susanne erwiderte: „Wieso denn nicht? Das sind Klassiker.”
Die Frau beugte sich vor, und ich konzentrierte mich auf ihr Flüstern: „Aber in diesen Geschichten stirbt jemand.”
„Ich weiß.”
„Sie können die Kapitel ja überspringen”, riet sie.
„Nein, man kann das Kapitel Tod nicht überspringen, weder in Büchern noch im Leben.”
Susanne steckte Nils Holgersson und Pinocchio in ihren Rucksack. Ich war so stolz auf sie. Sie arbeitete sich Stück für Stück durch den Schmerz, und manchmal war sie so schnell, dass ich nicht hinterherkam. Dann gingen sie ohne mich in ein Puppentheater oder ins Schwimmbad.
Leiderfahrungen dürfen wir nicht ausklammern, weder in Märchen, Geschichten noch im Alltag, denn wir reifen an ihnen. Wenn Kinder daran (altersgerecht) Anteil nehmen dürfen, erfahren sie, dass man auch schwierige Situationen und widersprüchliche Gefühle durchstehen kann, dass Erwachsene nicht alles wissen und können, dass es trotzdem weiter geht und, dass auch wieder andere Zeiten kommen.