Der Schatz des Vorlesens
Es gibt kaum eine Beschäftigung, die so viel Eltern-Kind-Nähe schafft wie das Vorlesen. Das Kind krabbelt auf den Schoß oder kuschelt sich neben den Vorleser, denn es möchte in das Buch schauen. Die Stimme macht die Geschichte lebendig und die Kinder hören zu. Man sieht ihnen an, wie sehr sie in die Erzählung eintauchen. Sie schauen verträumt oder empört. Ihre Händchen sind unruhig vor Aufregung oder entspannt, weil es ein Happy End gibt. Ihre Blicke hüpfen über die Bilder oder verweilen. Wenn Kinder etwas entdecken, dann tippen sie mit dem Finger darauf. Oft ist das die Einladung für ein Gespräch. „Schau mal, das sieht lustig aus.“ „Was ist das?“ „Warum machen sie das?“ So sinnieren Kinder über den Alltag und philosophieren über das Leben.
Vorlesen ist ein Ritual, dass die Mittagspause einläutet oder den Tag ausklingen lässt. Keine Fernsehsendung kann so anregend sein, wie gemeinsames Vorlesen. Man spürt, ob ein Kind den Text verstanden hat. Vielleicht muss man ein Wort erst einmal erklären. Ein Film hat keine Geduld. Er spult ab in schnellen Bildern, grellen Farben und betäubenden Geräuschen. (Natürlich gibt es wunderbare Kinderfilme und es ist toll, wenn man sie als Familie schaut.)
Nicht nur das Kind profitiert von einer Geschichte. Wir Vorleser finden für ein paar Minuten Ruhe: Hinsetzen, das Miteinander genießen, langsam atmen und lesen. Wenn man das Buch einmal vorgelesen hat, sagen die Kleinen: „Noch mal!“ Oder sie schauen es sich alleine an und „lesen“ anschließend die Geschichte selbst vor.
Manchmal nutze ich Bilderbücher in der Therapiestunde mit Familien, die eine sehr widersprüchliche Eltern-Kind-Beziehung haben. Dann ist es ein Erfolg, wenn die Mutter vorliest und das Kind einfach nur lauscht. Es still sein kann und vielleicht die Eltern berührt. Gemeinsam lernen sie, behutsam miteinander umzugehen. Geschichten und ihre Bilder wecken Empathie und Neugier zwischen Vorlesern und Zuhören.
Im Medienstrom und Hektikmeer sind Bücher eine Insel, um sich auf ihr auszuruhen, einander nah zu sein und die Fantasie auf Entdeckungstour zu schicken.
Mutter und Tochter lesen Auf Wiedersehen, Elias. Keiner kann sie stören, denn sie begleiten die Larve Elias, bis sie Flügel bekommt.