Mehr als genug
Letztens war ich für eine Reportage unterwegs, um eine Sendung für das Christliche Radio München vorzubereiten. Ich besuchte die Tafeln e.V. in Zorneding, sprach mit ehrenamtlichen Helfern, Spendern und Bedürftigen. Eine Tafelkundin sagte:
„Wer ständig Hunger leidet, fühlt sich weniger wertvoll.”
Ich könnte mich jetzt aufregen über Lebensmittelverschwendung, Konsumverhalten, soziale Ungerechtigkeit und Armut, darüber, dass mehr Frauen als Männer von Armut betroffen sind und mehr alleinerziehende Mütter als Familien. Man sagt, dass es im Durchschnitt den Menschen in Deutschland gut gehe. Aber wenn sich ein guter Durchschnitt aus einem sehr hohen Reichtum und einer bitteren Armut ergibt, dann können wir darauf pfeifen.
Ich bin froh, dass viele Menschen diesen angeblich guten Durchschnitt durchschauen. Sie packen an, helfen, lindern und vor allem: Sie verschenken Wertschätzung.
Während ich an meiner Reportage arbeitete, entstand die Kurzgeschichte Mehr als genug.
Mehr als genug
„Den Blauen finde ich schöner“, sagt Kim und streicht den Geldschein glatt.
„Aber der braune Schein ist wertvoller“, antwortet ihre große Schwester Laura.
„Woher hast du ihn?“
„Geschenkt bekommen.“
„So was bekommt man nicht geschenkt.“
Kim ist sechs Jahre alt und sie hat schon viel geschenkt bekommen, aber niemals Geld. Man gibt ihnen Lebensmittel, gebrauchte Kleidung und Möbel. Erst letzte Woche bekam sie ein Malbuch, das ein anderes Kind nicht mehr wollte. Kim nimmt es mit in die Schule, denn dort gibt es viele Stifte. Sie will es bunt malen. Regenbogenbunt.
„Und? Wer hat es Dir geschenkt?“ Kim krabbelt auf den Schoß ihrer große Schwester. Sie reckt ihren Kopf und ihre Nasenspitzen berühren sich.
„Eine Freundin aus meiner Klasse gab mir die fünfzig Euro.“
„Einfach so?“
Kims Augen werden immer größer. Sonst müssen Mama und Papa viele Zettel ausfüllen, um Geld zu bekommen. Kim berührt die Stirn ihrer Schwester Laura.
„Du hast dort Falten wie Mama.“ Mit den Fingern versucht sie Lauras Stirn glatt zu streichen. Die Schwestern verbringen viel Zeit miteinander. Sie spielen Karten, gehen spazieren und helfen im Haushalt. Sie haben sogar den gleichen Schulweg. Laura ist in ihrem letzten Schuljahr, Kim im ersten. An der Kantine trennen sie sich. Kim wünschte, sie könnte dort auch mal essen. Mittags sieht sie die anderen Kinder. Sie tragen Tabletts mit Suppe, Joghurt und Getränken. Einmal hatte sie ihren Papa gefragt, aber da bekam Papa Falten auf der Stirn, so wie Laura jetzt.
„Laura, was hast du denn? “ Statt einer Antwort nimmt Laura ihre Schwester fest in den Arm. Sie flüstert: „Der Geldschein lag auf meinem Platz in der Schule. Es klebte ein Zettel daran. Ich soll in die Kantine kommen und am einzigen Platz am Fenster warten. Ich soll dich mitbringen. Heute Nachmittag“
„Warum?“
„Ich weiß es nicht. Es fühlt sich nicht gut an.“
Kim krabbelt von Lauras Schoß. Sie stellt sich aufrecht hin und stemmt ihre Hände in die Hüften. Mit tiefer Stimme sagt sie: „Wenn ihr Sorgen habt, kommt ihr zu mir. Verstanden?“
Laura lacht. Ja, so redet Papa mit ihnen. Kim flitzt durch die Wohnung und öffnet leise die Tür zum Schlafzimmer. Sie haucht: „Papa? Papa? Schläfst du noch?“
Ihr Papa rekelt sich. Er hatte Nachtschicht. Obwohl er müde ist, lächelt er seine Tochter an.
„Papa? Kommst du mit in die Kantine?“
Er gähnt und nickt. Dann fragt er: „Wohin?“
Aber Kim ist schon wieder aus dem Zimmer.
Für Kim ist es ein Familienausflug. Sie freut sich auf die Schulkantine, wie andere Kinder auf den Zoo. Papa meint, dass Laura das Geld zurückgeben soll. Sie hätten schließlich Würde und Anstand. Kim weiß nicht so genau, was Anstand ist. Aber es muss wichtig sein. Papa sagt es mit tiefer Stimme und steht dabei ganz gerade. Laura ist aufgeregt. Kim reicht ihr die Hand.
„Wir sollen uns an den Tisch am Fenster setzen“, sagt Laura. Es sind nur ein paar Jugendliche in der Kantine. Ein Lehrer holt sich einen Kaffee. Die Küchenhilfe wischt die Tische ab. Sie warten. Die Sonne malt Kringel auf den Tisch. Nichts passiert.
„Nanu? Die ganze Familie Krause?“, sagt die Küchenhilfe und klatscht den feuchten Lappen auf den Tisch.
„Nein. Mama ist zu Hause“, antwortet Kim. „Und meine Schwester hat fünfzig Euro bekommen. Wir sollen hier warten.“
„Oh“, macht die Frau und wringt den Lappen aus.
Papa sagt: „Wir wollen das Geld zurückgeben.“
„Nein, bitte nicht“, antwortet sie. Dabei wedelt sie mit dem Lappen. Wassertropfen spritzen überall herum. „Ich habe das Geld auf Lauras Tisch gelegt. Ich dachte, sie würde sonst nicht in die Kantine kommen.“
Papa steht auf, zieht einen Stuhl zurück und bittet die Frau, sich zu setzen.
Die Sonne wandert weiter und malt nun Kringel an die Wände. Es ist ruhig geworden im Schulhaus. Die Küchenhilfe heißt Uschi und kennt die Krauses aus dem Gebrauchtwarenhaus und der Essensausgabe von den Tafeln. Laura lässt den Kopf hängen. Uschi weiß, dass sie arm sind. Papa berührt Lauras Kinn und hebt es leicht an. „Für Armut müssen wir uns nicht schämen. Wir sind anständige und fleißige Leute.“
„Genau“, sagt Uschi. „Wir wollen das Kantinenessen verschenken. Es bleibt zu viel übrig. Laura, du kannst immer hier Mittagessen und deine kleine Schwester auch.“
Laura schüttelt den Kopf.
„Nein? Warum nicht?“, fragt Uschi.
„Dann werden meine Mitschüler sehen, dass ich Almosen bekomme.“
„Quatsch“, sagt Uschi. „Das wird keiner sehen.“
Sie legt zwei Plastikkarten auf den Tisch.
„Was ist das?“ Kim nimmt eine Karte in die Hand. Sie hat einen schwarzen Streifen, aber keine Schrift.
„Jeder, der hier Essen kauft, hat solch eine Karte. Das ist jetzt deine. Der Schuldirektor verteilt sie heimlich an bedürftige Schüler. Ich sollte sie euch geben.“
„Es gibt noch mehr, die arm sind?“, fragt Laura.
„Ja, nur die anderen musste ich nicht mit fünfzig Euro bestechen.“ Uschi lacht. Es ist ein helles, fröhliches Lachen.
Die letzten Sonnenstrahlen streifen durch den Raum. Kim jagt ihnen nach. Sie tanzt durch die Kantine und jubelt: „Morgen werde ich hier essen.“
Dann stoppt sie. „Frau Uschi? Darf ich für Papa einen Joghurt mitnehmen und für Mama einen Apfel … falls etwas übrig bleibt?“
Bevor Papa ermahnen kann, sagt Uschi: „Selbstverständlich! Wenn wir teilen, reicht es für alle.“
Buchtipp: Volle Teller, leere Tonne