Passt schon!
Ich neige dazu, Fünf gerade sein zu lassen. Das ist nicht immer ein Vorteil.
Mein Erstberuf ist Ergotherapeutin. Ich gehörte zum ersten Jahrgang nach der Wende, der an der neu gegründeten Ergotherapieschule in Angermünde/ Brandenburg gelernt hatte. Neben Medizin und Psychologie lebte der Beruf von Einfallsreichtum. In unserem Jahrgang war auch die Ausbildung einfallsreich. Vieles wurde improvisiert, weil es noch nicht genug Lehrkräfte gab. In den handwerklichen Fächern wurde ich von robusten Schreinern, kauzigen Schlossern, schweigsamen Buchbindern und extravaganten Künstlern ausgebildet. Sie waren alle so eigen und ich fand es großartig.
In der Schreinerei musste ich einen Schemel bauen. Ich liebte das Material Holz: die Haptik, der Geruch, das Schaben der Werkzeuge, aber ich arbeitete ungenau. Mein Werkstück hatte entweder ein paar Millimeter zu viel oder zu wenig. Ich hobelte, feilte, schleifte. Passt schon? Das Ding kippelte. Die Füße wurden immer kürzer und es gab Punktabzug, weil die Höhe nicht mehr stimmte. Ich löste die Verzagung zwischen Platte und Fuß und stopfte Stofffetzen dazwischen, um die fehlenden Millimeter auszugleichen. Es war zum Heulen. Der Schemel wackelte und kippelte. Ich bekam eine schlechte Note. Später zeigte ich meinem Vater, er ist Tischler, mein Werk. Er sagte: „Du musst in Zukunft dreibeinige Schemel bauen, die wackeln nie.“
25 Jahre später denke ich noch immer an diesen Rat. Auf drei Beinen ist es stabil. Womöglich ist die Platte schief, aber nichts kippelt. Ein Melkschemel hat sogar nur ein Bein. Doch genau genommen bilden sie mit eigenen Beinen den festen Stand.
Ich kenne meine Tendenz, Dinge zu runden. Passt schon, sage ich, wenn man mir Wechselgeld zurückgibt. Passt schon, denke ich, wenn ich wieder vergessen habe, die Zeit für einen Kundenauftrag zu notieren. Passt schon, murmle ich und überfliege eine Gebrauchsanweisung, weil es mir zu lange dauert, sie zu lesen. Noch länger dauert es, ein Tutorial anzuschauen. Kann ich das neue Gerät oder Programm nicht intuitiv erfassen? Passt schon? In der Buchhaltung passt überhaupt nichts, wenn ich so weitermache. Menschenskinder, das ist nun mal nicht meine Begabung … oder noch schlimmer, es ist eine Schwäche. Ich muss aufpassen und mich anpassen. Zum Glück gibt es Apps, die meine Passt-schon-Mentalität ausgleichen. Zeit stoppen. Arbeit planen. Kosten kalkulieren. Ja, so wird es besser, aber es wird mir nie Spaß machen.
Ich gestehe mir ein, dass ich drei Dinge gut bewältigen kann. Auf einem dreibeinigen Schemel kann ich stehen, ohne dass es wackelt. So lange ich mich auf höchstens drei Dinge konzentriere, bleibt mir Freiraum zum Denken, Feiern, Handeln und Begegnen.
Dass mein Alltag ins Wanken kommt, hängt auch davon ab, dass ich nicht alles als Arbeit wahrnehme. Haushalt ist Arbeit. Kochen ist Arbeit. Sich Kümmern ist Arbeit. Ehrenamt ist Arbeit. Wenn ich denke, ich könne das alles nebenbei machen, wackelt und kippelt mein Alltag – selbst, wenn mir die Arbeit gefällt und mich erfüllt. Arbeit ist Arbeit. Ich möchte mir den Freiraum bewahren, immer wieder zu sagen: Passt schon. Eine Freundin fragt, ob sie mich besuchen kann, weil es ihr nicht gut geht. Klar! Ein Kollege bittet mich um Rat. Selbstverständlich. Eine soziale Einrichtung kann mir nicht mein volles Honorar zahlen. Okay.
Ich freue mich, wenn man zu mir sagt: „Passt schon!“ oder wie meine oberbayrischen Nachbarn grummeln: „Basst scho.“ Das ist ein Lob (!), denn es ist alles in bester Ordnung. Es ist gut.
Meinen Holzschemel habe ich noch immer. Er steht auf dem Balkon und wackelt nicht mehr, weil ich unterschiedlich viele Filzgleiter darauf geklebt habe, und wenn ich dort sitze, ruhen meine Füße auf dem Schemel. Das nicht perfekte Möbelstück erinnert mich daran, gnädiger zu sein mit mir und anderen und mal zu flüstern, zu rufen oder zu jubeln: „Passt schon! Es ist gut!“
zuerst erschienen in FamilyNEXT 4/23